Der Historiker Hubert Schneider war eine bekannte Persönlichkeit Bochums. Von 1974 bis 2004 akademischer Rat bzw. Oberrat an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der RUB, hat er drei Jahrzehnte lang Historiker, vor allem Lehramtsstudenten, ausgebildet, er war dabei zweifellos einer der Lehrenden, die Generationen von Studierenden zu motivieren verstanden. Doch auch viele Bürger und die Öffentlichkeit unserer Stadt kannten Hubert Schneider als einen Wissenschaftler, der durch sein beispielloses Engagement für die Aufarbeitung der Geschichte der Juden, auch durch die Einladung an die früheren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die 1995 Bochum besuchten, über den universitären Raum hinaus in die Stadtgesellschaft wirkte. So ist sein Tod auch für die 2014 gegründete Initiative Nordbahnhof Bochum ein ernster Verlust. Im letzten halben Jahr vor seinem Tod hat Hubert Schneider nicht weniger als dreimal im Nordbahnhof referiert. Seinen Vortrag über die 1942 aus Bochum nach Theresienstadt deportierten Bochumer Juden konnte er Ende Juli nicht mehr halten. Er starb am 18. Juni – obwohl er schon länger krank war – für die meisten überraschend.
Hubert Schneider wurde während des Zweiten Weltkriegs, im Februar 1941, gleichsam als Kriegskind, geboren. Er hat seinen Vater, der 1944 in der Ukraine fiel, nie kennengelernt. Er wuchs in Maximiliansau, einem Dorf in der Pfalz, vaterlos auf; die Mutter heiratete nicht wieder, sie zog ihn und seinen Bruder allein groß, „an der Armutsgrenze lebend“. Als 14-Jähriger begann er in der Industrie zu arbeiten, machte jedoch einige Jahre später in der Abendschule das Abitur nach und studierte dann an der Universität Freiburg Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft. Nach dem Staatsexamen arbeitete er als Lehrer, entschied sich dann aber dafür, weiter wissenschaftlich zu arbeiten. 1972 promovierte er und war bis 1974 an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe tätig, wurde dann als Akademischer Rat an den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Ruhr-Universität berufen und lehrte hier drei Jahrzehnte lang.
Bedeutsam für Schneiders Entwicklung wurde in den 60er Jahren die Begegnung mit Moritz Schlesinger, einem Diplomaten und Wirtschaftsfachmann der Weimarer Zeit mit jüdischem und sozialdemokratischem Hintergrund. Dieser suchte einen jungen Historiker, der ihn bei der Erarbeitung seiner Memoiren unterstützte. Er fand Hubert Schneider, der damit Einblick in Grundfragen der deutsch-russischen Beziehungen in den 20er Jahren erhielt, doch auch Aspekte der Geschichte der deutschen Juden kennenlernte, die ihn fortan sein Leben lang beschäftigen sollte.
Schneiders Dissertation hatte unter dem Einfluss Schlesingers ein Thema zur Geschichte der Sowjetunion zum Gegenstand: „Das sowjetische Außenhandelsmonopol 1920-1925“, publiziert 1973. Schneider beschäftigte sich fortan schwerpunktmäßig mit der Geschichte der Sowjetunion, Polens und der Tschechoslowakei. Sein besonderes Interesse galt jedoch zunehmend der polnischen Geschichte und ihrer Verschränkung mit der deutschen Geschichte, was ihn insbesondere den Antisemitismus und den Holocaust thematisieren ließ. Das breite historiographische Interesse Schneiders prägte seine akademische Lehrtätigkeit und spiegelt sich in der von drei seiner Schülerinnen – Andrea Löw, Kerstin Robusch und Stephanie Walter – herausgegebenen Festschrift, die Schneider bei Eintritt in den Ruhestand 2004 überreicht wurde; sie trägt den Titel „Deutsche – Juden – Polen“ und vereinigt Beiträge von Kollegen und Studierenden, von deutschen und polnischen Historikern.
Schneider war der Überzeugung, dass es nicht reiche, die Entscheidungsprozesse im Machtzentrum NS-Deutschlands 1933-45 zu untersuchen, die zur Radikalisierung des Antisemitismus und zur Implementierung des Holocaust führten. Er griff mit guten Gründen die Frage auf, welchen Anteil am Holocaust auch die deutsche Gesellschaft hatte, selbst lokale Behörden, Parteidienststellen, die Polizei und viele „Volksgenossen“. Deshalb wandte er sich der Verfolgung der Bochumer Juden, der Familien, Männer und Frauen, Alten und Kinder zu. Insbesondere identifizierte er sich mit diesen, was jeden beeindruckte, der Schneider hörte, der manchmal angesichts seiner Betroffenheit über die Schicksale beim Reden stockte.
Seine Forschungen zu den Bochumer Juden fanden in einer ganzen Reihe von Studien ihren Niederschlag: „Die „Entjudung“ des Wohnraums – „Judenhäuser“ in Bochum“ (2010), der „Judentransport nach Theresienstadt“ (2020), „‘Es lebe das Leben...‘ Die Freimarks aus Bochum - Eine deutsch-jüdische Familie. Briefe 1938-1946“ (2005), „Leben nach dem Überleben: Juden in Bochum nach 1945“ (2014). Schneider veröffentlichte – neben biographischen Arbeiten, etwa über Ottilie Schoenewald und Carl Rawitzki – eine Fülle von eindrucksvollen Dokumenten und Zeugnissen, zuletzt „Das Tagebuch der Susi Schmerler, eines jüdischen Mädchens aus Bochum“ (2018), das schon 1938 mit ihrer und anderen polnisch-jüdischen Familien nach Polen deportiert wurde, doch als einzige ihrer Familie nach Israel entkam. Ihrem Tagebuch traute sie die Sorge um ihre Eltern und den kleinen Bruder an (der Kontakt mit ihnen brach ab), doch auch ihr Heimweh nach Bochum schrieb sie nieder – mit anderen Jugendlichen aus dem Revier traf sie sich in Israel zu „Bochum-Abenden“…
Diese und andere Studien zur Geschichte wurden wesentlich gefördert durch den Besuch der früheren jüdischen Bürgerinnen und Bürger (mit ihren Angehörigen) aus aller Welt, zu denen er und einige andere Kontakte geknüpft hatten, im Jahre 1995. Wie sehr er sich in dieser Frage engagiert hat, habe ich damals unmittelbar erlebt und bin froh, dass er sein Vorhaben realisieren konnte. Hubert Schneider hat mit dem Verein „Erinnern für die Zukunft“ die Kommunikation mit diesem Personenkreis auch in den folgenden Jahren weitergeführt, was u.a. zur Überlassung von Briefen und anderen historischen Dokumenten, auch Erinnerungsstücken, führte, deren Auswertung helfen kann, die jahrhundertelange Geschichte der Juden in unserer Stadt und deren Anteil an der gesellschaftlichen Entwicklung zu rekonstruieren.
Dr. Hubert Schneider wurde – zusammen mit Dr. Manfred Keller, der das Stelenprojekt vorantrieb – mit der Dr.-Ruer-Medaille ausgezeichnet. Hubert Schneider, der vor seinem Tode in der Erforschung der jüdischen Geschichte und der Kommunikation darüber seine wichtigste Lebensleistung sah, hat in besonderer Weise die Erinnerungskultur unserer Stadt geprägt, die sich mit dem Verschwinden der Zeitzeugen und angesichts der Zeitläufe mit neuen Herausforderungen konfrontiert sieht. Die Initiative Nordbahnhof Bochum wird seine Anliegen in einer sich wandelnden Zeit weiterführen.
Bernd Faulenbach