Nachruf auf Rolf Abrahamsohn

Am Donnerstag, dem 23. Dezember 2021, starb Rolf Abrahamsohn im Alter von 96 Jahren. Er war einer der letzten deutschen Juden, die noch aus eigenem Erleben über die Gewalterfahrungen der NS-Zeit berichten konnten. Lange Zeit mit seinen Erinnerungen allein gelassen, teilte er diese in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens vor allem mit Schulklassen und Jugendgruppen, aber auch mit jungen Erwachsenen wie zum Beispiel Polizeianwärterinnen und -anwärtern. Auch in Bochum war er oft zu Gast. Dabei kam er in die Stadt zurück, die eine Station seines Verfolgungsweges gewesen war, der von seiner Geburtsstadt Marl aus über die Judenhäuser in Recklinghausen Ende Januar 1942 nach Riga (Ghetto und Konzentrationslager) und von dort über Stutthof und Buchenwald 1944 in das Außenlager Bochumer Verein des KZ Buchenwald geführt hatte. Als die Alliierten sich näherten, transportierte ihn die SS im März 1945 zusammen mit anderen überlebenden KZ-Häftlingen in vollgestopften Eisenbahnwaggons zurück nach Buchenwald. Am Ende verschlug es ihn nach Theresienstadt, wo die Rote Armee ihn im Mai 1945 befreite. Nach Marl zurückgekehrt, beteiligte er sich in den Nachkriegsjahren maßgeblich am Aufbau der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen; 1978 bis 1992 war er deren Vorsitzender.

Rolf Abrahamsohn bei der Eröffnung des Gedenkortes Brüllstraße in Bochum am 8. Mai 2019 (Foto: Gerd Kuhlke)

Ich selbst lernte Rolf Abrahamsohn im Jahr 2000 kennen, als der Rat der Stadt Bochum ein Programm zur Unterstützung ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter verabschiedete, in dessen Umsetzung das Stadtarchiv eingebunden war. In einem Zeitungsartikel hatte er meinen Namen gelesen und meldete sich, um uns wissen zu lassen, wie bedeutsam dieser Akt der Übernahme von Verantwortung für Verbrechen aus der NS-Zeit für ihn war. Dabei konnte ich kaum glauben, den ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen an der Strippe zu haben, der noch dazu berichtete, er sei Gefangener und Zwangsarbeiter in einem der beiden Bochumer Außenlager des KZ Buchenwald gewesen. Natürlich lud ich ihn nach Bochum ein. Zum ersten Gespräch brachte er als „Begleitschutz“, wie er es formulierte, den 2013 verstorbenen Auschwitz-Überlebenden Alfred Salomon mit, den wir beide gut kannten. Auch Salomon war an Abrahamsohns Geschichte interessiert, besonders an dessen Zwangsaufenthalt im Ghetto Riga, in das auch Salomons Eltern, Georg und Elfriede Salomon, deportiert worden waren.
Aus dem Kennenlern-Gespräch ergaben sich zahlreiche weitere, in denen Rolf Abrahamsohn über sein Leben berichtete. Oft rief er auch an – und erzählte zunächst einen Witz. Er verfügte über einen schier unerschöpflichen Schatz an jüdischen Witzen, was nicht nur von Humor und Selbstironie zeugt. Die Witze dienten ihm zur Abfederung der harten Geschichten aus seinem Leben. Nach der lustigen Einleitung kam er in der Regel auf eine ihn quälende Erinnerung zu sprechen – mit für mich immer wieder neuen Details zu seiner Verfolgungsgeschichte – und beendete das Gespräch mit einem lockeren Spruch und der Formel „Jetzt habe ich Ihnen aber genug erzählt!“

Bald entstand auch die Idee, Rolf Abrahamsohn als Zeitzeugen nach Bochum einzuladen und mit Schülerinnen und Schülern zusammenzubringen. Als sich herausstellte, dass das Interesse der Schulen zu groß war, um alle berücksichtigen zu können, löste Herr Abrahamsohn das Dilemma auf seine Weise. Statt mehrerer Einzeltermine für einen Teil und Absagen für den anderen schlug er vor, ein bis zwei Großveranstaltungen anzubieten. So kam es dann auch. Im alten Stadtarchiv an der Kronenstraße fanden im November 2000 circa 200 Schülerinnen und Schüler diverser Bochumer Schulen Platz, im Schauspielhaus Bochum mehr als 600. Ich erinnere mich an den gewaltigen Lärmpegel und die Unruhe auf den Rängen. Konnte das gutgehen? Dann betrat Matthias Hartmann, der damalige Intendant des Schauspielhauses, die Bühne, sprach Begrüßungsworte und sorgte für Ruhe. Als Rolf Abrahamsohn mit seinem Vortrag begann, war es mucksmäuschenstill – und blieb es bis zum Schluss. Er erzählte seine Verfolgungsgeschichte. Das hatte er noch nicht oft getan und tat es unter großen Strapazen. In früheren Schul-Veranstaltungen hatte er es vorgezogen, über jüdischen Alltag zu sprechen. Er litt unter seinen Erinnerungen und verbrachte in der Regel schlaflose Nächte vor solchen Auftritten. Mein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn dennoch wieder einlud, ließ sich dadurch beruhigen, dass ihm der Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ungeheuer wichtig war und er es nicht anders hätte haben wollen. In den Jahren nach der „Premiere“ im Schauspielhaus folgten weitere, teils spektakuläre Zeitzeugen-Veranstaltungen mit Rolf Abrahahmsohn: in Bochumer Schulen, im Stadtarchiv, später Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte, oder wieder im Schauspielhaus.

Zu den Dingen, die bleiben, zählt der 2002 vom Stadtarchiv Bochum in Kooperation mit der Hauptschule Wattenscheid publizierte Video-Film „In Bochum war es fast am schlimmsten“. Zwei Schüler und zwei Schülerinnen gingen mit Rolf Abrahamsohn auf Spurensuche, suchten und fanden Reste des ehemaligen KZ-Außenlagers Bochumer Verein an der damaligen Brüllstraße, befragten ihn und ließen sich von ihm befragen und bannten alles auf Film. Die Fertigstellung des Videos erfolgte unter Anleitung ihrer Lehrerin und einer Mitarbeiterin des Stadtarchivs. Nicht nur für die jungen Hauptschülerinnen und -schüler, auch für Rolf Abrahamsohn, war dieses Projekt etwas Besonderes. Beide Seiten hegten Respekt und Zuneigung füreinander, bei den Jugendlichen kamen Ehrfurcht und Bewunderung hinzu. Dass sie dabei mit geschärftem Blick auf ein sie bisher kaum oder wenig interessierendes historisches Thema blickten, gehört auch zu den Erträgen des Projektes.

Fühlte Rolf Abrahamsohn sich in den ersten Nachkriegsjahren als Überlebender des NS-Terrors fremd in seiner Heimatregion, schlugen ihm oft Unverständnis und mangelnde Empathie entgegen, so änderte sich das in seinen letzten Lebensjahren. 2011 ehrte ihn der Kreis Recklinghausen mit der Ehrenbürgerschaft, 2020 wurde ihm der Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen. Seit einigen Jahren wird auf dem Jüdischen Friedhof in Recklinghausen auf Einladung der Jüdischen Kultusgemeinde des Kreises Recklinghausen am ersten Sonntag im November unter großer öffentlicher Anteilnahme an die Deportation und Ermordung jüdischer Recklinghäuser Bürgerinnen und Bürger in Riga erinnert. Rolf Abrahamsohn pflegte das alljährliche Gedenken an die Ermordeten seit 1946, zunächst mit den wenigen anderen überlebenden Mitgliedern der alten Jüdischen Gemeinde, dann allein. Die zuletzt gezeigte Aufmerksamkeit tat ihm gut.
Am 8. Mai 2019 bedankte sich auch die Stadt Bochum, indem sie – auch ihm zu Ehren – eine von dem Künstler Marcus Kiel gestaltete Installation zur Erinnerung an das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald beim Bochumer Verein 1944-1945 auf dem Gelände des ehemaligen Außenlagers eröffnete. Trotz seines angeschlagenen Gesundheitszustandes konnte Rolf Abrahamsohn an der Einweihungszeremonie teilnehmen. Eine große Freude war es ihm, der sich auch für Fußball interessierte, dass Fans des VfL Bochum mit einem Vereinsfahrzeug seinen Hin- und Rücktransport übernahmen und sich um sein Wohlergehen kümmerten.

Rolf Abrahamsohns Lebensgeschichte kann in dem 2010 anlässlich seines 85. Geburtstags vom Stadtarchiv – Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Westfalen herausgegebenen Buch „Was machen wir, wenn der Krieg zu Ende ist? Lebensstationen 1925-2010“ nachgelesen werden. Das Buch basiert auf den Interviews, die Abrahamsohn dem Stadtarchiv über einen längeren Zeitraum hinweg gab. Das titelbildende Zitat bezieht sich auf die hoffnungsvolle Situation unter den jüdischen Häftlingen im Ghetto Riga, als sie von lettischen Arbeitern und durch „Mundpropaganda“ erfuhren, „die Russen“ seien nur noch 42 Kilometer von Riga entfernt. Leider erfüllte die Hoffnung sich nicht. Die Rote Armee wurde zurückgetrieben und Abrahamsohn erst mehr als zwei Jahre später befreit.

Ingrid Wölk